Nach dem neuen Anti-Abmahngesetz enthält § 8c Abs. 2 UWG bestimmte Indizien, bei deren Vorliegen von einem Rechtsmissbrauch ausgegangen werden kann. Das OLG Frankfurt (Beschl. v. 12.5.2021 – 6 W 23/21) entschied nun, dass bei 51 in kurzer Zeit ausgesprochenen Abmahnungen und hohen, aber nicht überhöhten, Gegenstandswerten und Vertragsstrafeversprechen nicht von einem Rechtsmissbrauch auszugehen sei.

Die Parteien sind Wettbewerber beim Vertrieb von Werbeartikeln an gewerbliche Abnehmer. Die Antragsgegnerin bietet verschiedene Bio-Lebensmittel an, u.a. Gummibärchen, Tee, Orangensaft, Schokolade und Kaffee, verfügte jedoch über keine Öko-Zertifizierung. Die Antragsstellerin ließ die Antragsgegnerin deswegen am 18.12.2020 abmahnen und forderte die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung. Im Zeitraum vom 3.12.2020 bis 4.1.2021 versendete die Antragsstellerin insgesamt 50 weitere Abmahnungen an Wettbewerber, die alle überwiegend die gleichen Produkte betrafen. Die Antragsgegnerin gab die geforderte Unterlassungserklärung nicht ab und holte die Öko-Zertifizierung nach der Abmahnung nach.

Das LG Darmstadt (Beschl. v. 11.3.2021 – 22 O 9/21) hatte den Verfügungsantrag der Antragsstellerin zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin habe mittlerweile die notwendige Zertifizierung erlangt, damit sei die Wiederholungsgefahr entfallen. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragsstellerin.

Das OLG Frankfurt entschied nun, dass der geltend gemachte Unterlassungsanspruch bestehe. Die Antragsgegnerin habe gegen die Zertifizierungspflicht nach der Öko-VO verstoßen und die Wiederholungsgefahr sei nicht bereits wegen der Nachholung entfallen. Die Zahl der ausgesprochenen Abmahnungen, vorliegend 51, und die zugrunde gelegten Gegenstandswerte (50.000 € bis 100.00 €) und geforderten Vertragsstrafeversprechen (6.500 bis 7.500 €) seien zwar hoch, aber nicht offensichtlich überhöht. Ein Rechtsmissbrauch liege daher nicht vor.

Verstoß gegen die Öko-VO

Zunächst stellte das OLG Frankfurt fest, dass die Antragsgegnerin gegen die Vorgaben nach Art. 28 Öko-VO (VO [EG] 834/2007) verstoßen habe. Danach muss sich jeder Unternehmer, der ökologische Erzeugnisse erzeugt, aufbereitet, lagert, aus einem Drittland einführt oder in Verkehr bringt, vor dem Inverkehrbringen u.a. einem Kontrollsystem unterwerfen und sich entsprechend zertifizieren lassen. Hierunter fällt auch der Verkauf.

Die Antragsgegnerin war nach Art. 28 I 1 b ÖkoVO verpflichtet, sich einem Kontrollsystem nach Art. 27 der Verordnung zu unterstellen. […] Die Antragsgegnerin hatte ihr Unternehmen zum Zeitpunkt des im Streitfall maßgeblichen Verkaufsangebots im Dezember 2020 nicht dem Kontrollsystem nach Art. 27 ÖkoVO unterstellt. Die Einhaltung der Verpflichtungen gem. der Verordnung (Art. 27 I ÖkoVO) wurde im Unternehmen der Antragsgegnerin erst am 18.02.2021 kontrolliert. Die Kontrollstelle hat ihre Bescheinigung (Art. 29 I ÖkoVO) mit Wirkung vom 22.02.2021 ausgestellt.

Zertifizierungspflicht gilt auch für Online-Händler

Eine Ausnahme sieht Art. 28 Abs. 2 Öko-VO nur für einen direkten Vertrieb an Verbraucher vor, in Deutschland durch § 3 Abs. 2 ÖLG umgesetzt. Danach sind nur Unternehmer, die Bio-Produkte direkt an Endverbraucher abgeben, von der Zertifizierungspflicht befreit. Unter diesen Begriff des „direkten Verkaufs“ fallen Online-Händler jedoch nicht, das hat der EuGH (Urt. v. 12.10.2017 – C-289/16) bereits 2017 entschieden.

Ein „direkter“ Verkauf liegt nur vor, wenn der Verkauf am Ort der Lagerung des Erzeugnisses unter gleichzeitiger Anwesenheit des Unternehmers oder seines Verkaufspersonals und des Verbrauchers erfolge (BGH MMR 2018, 609, Rnr. 28 ff. – Bio-Gewürze II). Die Bestimmung des § 3 Abs. 2 ÖLG beruht auf Art. 28 Abs. 2 ÖkoVO. Sie ist daher in Übereinstimmung mit dieser Vorschrift auszulegen. Gem. Art. 28 Abs. 2 ÖkoVO können die Mitgliedstaaten Unternehmer, die Erzeugnisse direkt an Endverbraucher oder -nutzer verkaufen, von der Anwendung des Artikels 28 dieser VO befreien, sofern die Unternehmer die Erzeugnisse nicht selbst erzeugen, aufbereiten oder an einem anderen Ort als in Verbindung mit der Verkaufsstelle lagern oder solche Erzeugnisse nicht aus einem Drittland einführen oder solche Tätigkeiten auch nicht von Dritten ausüben lassen.

Nach diesen Maßstäben fehlt es an einem direkten Verkauf an den Endverbraucher. Wie der EuGH auf den Vorlagebeschluss des BGH hin ausgesprochen hat (GRUR 2017, 1277), ist Art. 28 Abs. 2 ÖkoVO dahin auszulegen, dass Erzeugnisse nur dann im Sinne dieser Bestimmung „direkt“ an den Endverbraucher oder -nutzer verkauft werden, wenn der Verkauf unter gleichzeitiger Anwesenheit des Unternehmers oder seines Verkaufspersonals und des Endverbrauchers erfolgt. Diese Voraussetzungen liegen bei dem im Streitfall maßgeblichen Online-Versandhandel, bei dem die Produkte mit der Bezeichnung „Bio“ als aus ökologischer/biologischer Produktion stammend gekennzeichnet sind, nicht vor.

Bei der Regelung des Art. 28 Abs. 1 S. 1 b) Öko-VO handle es sich um eine Marktverhaltensregelung nach § 3a UWG, gegen die die Antragsgegnerin verstoßen habe. Dieser sei auch dazu geeignet, die Interessen von Verbrauchern spürbar zu beeinträchtigen.

Zudem sei durch die erfolgte Zertifizierung der Antragsgegnerin die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Die Einstellung der Verletzungshandlung sei hierfür grundsätzlich nicht geeignet. Zudem sei der Gültigkeitszeitraum des Zertifikats auf einen Gültigkeitszeitraum bis zum 31.8.2021 beschränkt.

Kein Rechtsmissbrauch

Die Antragsgegnerin hatte sich damit verteidigt, dass die Antragsstellerin rechtsmissbräuchlich handle. Zur Feststellung sei eine Gesamtwürdigung aller Umstände erforderlich, so das Gericht.

Ein Missbrauch liegt vor, wenn der Anspruchsberechtigte mit der Geltendmachung des Anspruchs überwiegend sachfremde, für sich gesehen nicht schutzwürdige Interessen und Ziele verfolgt und diese als die eigentliche Triebfeder und das beherrschende Motiv der Verfahrenseinleitung erscheinen […]. Ein Fehlen oder vollständiges Zurücktreten legitimer wettbewerbsrechtlicher Ziele ist indessen nicht erforderlich (BGH GRUR 2001, 82 – Neu in Bielefeld I). Ausreichend ist, dass die sachfremden Ziele überwiegen (BGH GRUR 2019, 199 Rn. 21 – Abmahnaktion II).

Auch die Zweifelsregelung des Abs. 2 entbindet das Gericht nicht von der für die Feststellung des Rechtsmissbrauchs erforderlichen Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Feddersen, 39. Aufl. 2021, UWG § 8c Rn. 12). Im Gesetzgebungsverfahren ist klargestellt worden, dass es sich bei den Fällen des Abs. 2 nicht um eine Vermutung iSv § 299 ZPO handelt, sondern lediglich die Anordnung einer Indizwirkung (vgl. BT-Drs. 19/22238, 17).

Abmahnung aller Verletzer muss möglich sein

Nach § 8c Abs. 2 Nr. 2 UWG ist im Zweifel von einem Rechtsmissbrauch auszugehen, wenn ein Mitbewerber eine erhebliche Anzahl von Verstößen gegen die gleiche Rechtsvorschrift durch Abmahnungen geltend macht, wenn die Anzahl der geltend gemachten Verstöße außer Verhältnis zum Umfang der eigenen Geschäftstätigkeit steht oder wenn anzunehmen ist, dass der Mitbewerber das wirtschaftliche Risiko seines außergerichtlichen oder gerichtlichen Vorgehens nicht selbst trägt. Ein solches Verhalten könne jedoch nicht festgestellt werden, so das Gericht. Die Anzahl der Abmahnungen (51) spreche nicht für einen Rechtsmissbrauch. Es müsse einem Mitbewerber möglich sein, gegen alle Verletzer vorzugehen.

Soweit die Antragsgegnerin mit Blick auf die Zahl der Abmahnungen ein Fall des § 8 c II Nr. 2 UWG sieht, kann der Senat dem nicht folgen. Verhalten sich viele Wettbewerber wettbewerbswidrig, muss es grundsätzlich möglich sein, gegen alle vorzugehen, sofern die Verstöße die Marktposition des Abmahnenden in relevanter Weise beeinträchtigen können (Senat, GRUR-RR 2016, 274 – Drohkulisse; Senat, GRUR-RR 2007, 56, 57; Kochendörfer, WRP 2020, 1513, Rnr. 7). Ein Mitbewerber muss gegen alle Mitbewerber vorgehen können, die sich durch einen Rechtsverstoß einen spürbaren Wettbewerbsvorteil verschaffen. Anders als z.B. in der vom BGH entschiedenen „Abmahnaktion II“ (GRUR 2019, 199) handelt es sich hier nicht um die Verletzung einer Kennzeichnungspflicht, die den Wettbewerber nicht unmittelbar betrifft oder benachteiligt; vielmehr ist hier ein unmittelbarer Nachteil für die Antragstellerin zu erkennen, die sich der Mühen und Kosten der Akkreditierung gestellt hat, die die Antragsgegnerin nicht aufgewendet hat. Die Zahl der Abmahnungen (51) kann daher als Indiz für eine Rechtsmissbräuchlichkeit der Abmahnung nicht in Betracht kommen.

Auch das vorliegend durch die Abmahnungen entstandene Kostenrisiko habe keine Auswirkungen auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Antragsstellerein und begründe keinen Rechtsmissbrauch.

Zwar hohe, aber keine überhöhten Gegenstandswerte und Vertragsstrafen

Zudem verwies die Antragsgegnerin auf einen unangemessen hohen Gegenstandswert der Abmahnung und überhöhte Vertragsstrafeforderungen. Diese Punkte sind nach § 8c Abs. 2 Nr. 3, 4 UWG ebenfalls Indizien für einen Rechtsmissbrauch. Die Antragsstellerin legte den Abmahnungen Gegenstandswerte zwischen 50.000 bis 100.000 € zugrunde und forderte Vertragsstrafen zwischen 6.500 und 7.500 €. Das Gericht stuft diese Werte zwar als hoch, aber nicht als „unangemessen hoch“ bzw. „offensichtlich überhöht ein“, so wie das Gesetz es fordert.

Die Indizwirkung tritt jedoch erst dann ein, wenn diese Werte „offensichtlich“ überhöht sind. Die ursprüngliche Entwurfsfassung sah vor, dass ein Missbrauch bereits dann indiziert wird, wenn „erheblich“ überhöhte Vertragsstrafen gefordert werden oder eine „erheblich“ über die Rechtsverletzung hinausgehende Unterlassungsverpflichtung vorgeschlagen wird. Da sich kaum objektivieren lässt, welche Zuvielforderung „erheblich“ ist, wäre eine gravierende Rechtsunsicherheit entstanden. Deshalb wurde der Begriff „erheblich“ durch den Begriff „offensichtlich“ ersetzt. Damit soll nach der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden, dass es nur um eindeutige und ohne Weiteres erkennbare Fehler geht (Kochendörfer, WRP 2020, 1513). An einer solchen Offensichtlichkeit fehlt es hier. Gegenstandswerte von zunächst 100.000 € (Abmahnungen vom 03.12,) dann 75.000 € (Abmahnungen vom 18.12.) sowie später 50.000 € bewegen sich angesichts der Tatsache, dass es sich nicht bloß um formale, den Wettbewerb nicht beeinträchtigende Verstöße handelt, jedenfalls nicht in einem derart hohen Bereich, dass man eine offensichtliche Überhöhung annehmen müsste. Gleiches gilt für die geforderten Vertragsstrafen (6.500 € und 7.500 €). Wenn auch in der Regel Vertragsstrafen im Bereich von 5.000 € üblich sind, so sind insbesondere bei wirtschaftlich potenten Verletzern durchaus höhere Vertragsstrafen angemessen, da die Wirkung einer drohenden Vertragsstrafe naturgemäß von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verletzers abhängt.

Fazit

Der Vorwurf „Rechtsmissbrauch“ wird bei vielen Abmahnungen schnell erhoben, in den wenigsten Fällen erkennen die Gerichte diesen Einwand allerdings an. Mit Inkrafttreten des Anti-Abmahngesetzes am 2.12.2020 wurden in § 8c UWG nun gewisse Fallgestaltungen für die Annahme rechtsmissbräuchlicher Abmahnungen ins Gesetz aufgenommen. Ihnen kommt jedoch nur Indizwirkung für einen Missbrauch zu. Erforderlich ist auch hier eine umfassende Würdigung der Gesamtumstände.

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