Die Grundsätze der prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs gelten auch für einstweilige Verfügungsverfahren im Lauterkeitsrecht. Das entschied nun das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 27.7.2020 – 1 BvR 1379/20). Weiche der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung von der Abmahnung ab, müsse der Gegner gehört werden.
Die Beschwerdeführerin bietet Dienstleistungen im Dentalbereich an und versendet an ihre Kunden insbesondere Produkte, mit denen diese zu Hause einen Abdruck sowie Fotos von ihrem Gebiss machen können, um daraus individuelle Schienen zur Zahnkorrektur zu erstellen. Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens führte bei der Beschwerdeführerin einen Testkauf eines solchen Abdrucksets durch, mahnte sie anschließend unter anderem wegen vorgeblich fehlender CE-Kennzeichnung ab und nahm sie auf Unterlassung in Anspruch.
Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens stellte daraufhin Antrag auf Erlass einer Unterlassungsverfügung beim LG München I. Das Gericht wies sie schriftlich auf Bedenken hinsichtlich der Antragsfassung und Glaubhaftmachung hin. Daraufhin ergänzte sie ihren Antrag und erwirkte den Erlass der einstweiligen Verfügung. Die Beschwerdeführerin – Antragsgegnerin im Ausgangsverfahren – wurde vor Erlass der angegriffenen Entscheidung nicht an dem gerichtlichen Verfahren beteiligt. Die Beschwerdeführerin erhob Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung und stellte Vollstreckungsschutzantrag. Den Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wies das Landgericht zurück.
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zwar nicht zur Entscheidung an, stellte jedoch klar, dass die Grundsätze der prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs auch für einstweilige Verfügungsverfahren im Lauterkeitsrecht gelten.
Das Gericht stellte fest, dass das LG München in zweifacher Hinsicht gegen die prozessuale Waffengleichheit verstoßen habe. Zum einen wich der in der Abmahnung geltend gemachte Unterlassungsanspruch von dem nachfolgend gestellten Verfügungsantrag ab. Nur bei wortlautgleicher Identität sei jedoch sichergestellt, dass der Antragsgegner auch hinreichend Gelegenheit hatte, sich zu dem vor Gericht geltend gemachten Vorbringen des Antragstellers in gebotenem Umfang zu äußern. Dies sei hier nicht der Fall gewesen.
Während die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens mit der der außergerichtlichen Abmahnung beigefügten vorformulierten Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung von der Beschwerdeführerin verlangte, „[…] zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr Medizinprodukte und Handelspackungen für Medizinprodukte ohne CE-Kennzeichnung auf dem jeweiligen Produkt in den Verkehr zu bringen; […]“, war ihr mit Schriftsatz vom 14. Mai 2020 gestellter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung darauf gerichtet, es der Beschwerdeführerin zu untersagen: „[…] im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Medizinprodukte und Gebrauchsanweisungen für Medizinprodukte ohne deutlich sichtbare, gut lesbare und dauerhafte CE-Kennzeichnung in den Verkehr zu bringen und/oder in Betrieb zu nehmen.“
Im Zweifel ist der Antragsgegnerseite auch bei kleinsten Abweichungen rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. Bornkamm, GRUR 2020, 715 <724>). Die Anhörung der Beschwerdeführerin wäre daher vor Erlass der einstweiligen Verfügung veranlasst gewesen.
Zum anderen habe das LG München einen gerichtlichen Hinweis an die Antragsstellerseite erteilt, ohne die Beschwerdeführerin davon in Kenntnis zu setzen. Das Landgericht wies die Antragsstellerin darauf hin, dass dem Erlass der einstweiligen Verfügung Bedenken entgegenstünden, da der zunächst gestellte Antrag nicht hinreichend bestimmt sei. Insbesondere musste die konkrete Verletzungsform in den Antrag aufgenommen werden. Zudem bedurfte es noch zusätzlicher Glaubhaftmachung bezüglich der Kennzeichnung der Testbestellung. Daraufhin besserte die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens ihren Verfügungsantrag nach.
Hierin liege der zweite Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit.
Gehör ist auch zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 24) . Entsprechend ist es verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, indem auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitgeteilt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn es bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben.
Entsprechend wäre es verfassungsrechtlich geboten gewesen, die Beschwerdeführerin vor Erlass der einstweiligen Verfügung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens, indem auch ihr die richterlichen Hinweise zeitnah mitgeteilt worden wären.
Das Bundesverfassungsgericht stellte jedoch zugleich fest, dass nicht jede Verfassungsbeschwerde gegen die Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit statthaft sei. Zudem sei ein besonderes Feststellungsinteresse notwendig. Daran fehle es hier, so das Bundesverfassungsgericht. Die Abweichungen zwischen dem außergerichtlich geltend gemachten Unterlassungsverlangen und dem ursprünglich gestellten Verfügungsantrag sowie der nachgebesserten Antragsfassung stellten sich in der Sache als gering und nicht gravierend dar. Grund hierfür sei die im Lauterkeitsrecht entwickelte „Kerntheorie“.
Die im Recht des unlauteren Wettbewerbs entwickelte „Kerntheorie“ besagt, dass der Schutzumfang eines Unterlassungsgebots nicht nur die Verletzungsfälle, die mit der verbotenen Form identisch sind, sondern auch solche gleichwertigen Verletzungen umfasst, die ungeachtet etwaiger Abweichungen im Einzelnen den Verletzungskern unberührt lassen. Die Kerntheorie ist verfassungsrechtlich im Grundsatz unbedenklich […]. Sie dient der effektiven Durchsetzung von auf Unterlassung gerichteten Ansprüchen, die wesentlich erschwert wäre, falls Unterlassungstitel nur in Fällen als verletzt gälten, in denen die Verletzungshandlung dem Wortlaut des Titels genau entspricht. Dass ein Unterlassungsgebot sich auf den Inhalt der zu unterlassenden Handlung bezieht und weniger auf ihre konkrete Formulierung im Einzelfall, ist auch für den Unterlassungsschuldner erkennbar.
Dem Antragsgegner sei es grundsätzlich zumutbar, im Erwiderungsschreiben auf eine außergerichtliche Abmahnung auch zu kerngleichen, nicht identischen Verstößen Stellung zu nehmen. Hierbei sei maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens die Beschwerdeführerin mit der außergerichtlichen Abmahnung bereits ausdrücklich aufforderte, diese „rechtswidrige Handlung sowie alle kerngleichen Verstöße“ zu unterlassen. Die Beschwerdeführerin hätte sich daher durchaus bewusst sein müssen, umfassend auch zu kerngleichen Verstößen zu erwidern.
Denn die Verhängung von Ordnungsmitteln kommt auch dann in Betracht, wenn die nach Erlass eines Titels vom Schuldner begangene Handlung nicht mit der untersagten Handlung identisch ist, aber den Kern des Verbots betrifft. Vor Erlass des Titels kann daher nichts anderes gelten. Die Äußerungsmöglichkeiten sind damit hinreichend gewahrt. Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo der gerichtliche Verfügungsantrag den im Rahmen der außergerichtlichen Abmahnung geltend gemachten Streitgegenstand verlässt oder weitere Streitgegenstände neu einführt.
Zudem habe die Beschwerdeführerin keinen schweren Nachteil dargelegt, der durch die Schadensersatzpflicht des § 945 ZPO nicht wieder aufgefangen werden könnte. Nach dieser Vorschrift besteht eine verschuldensunabhängige Schadensersatzpflicht des Gläubigers, wenn sich die Anordnung der einstweiligen Verfügung als von Anfang an ungerechtfertigt erweist.
Die Beschwerdeführerin hat konkret nichts dazu vorgetragen, dass sie das im Ausgangsverfahren angegriffene Zahnabdruckset aktuell nicht mehr vertreibe, Produkte hätte zurückrufen müssen oder ihr Geschäftsmodell insgesamt nicht mehr verfolgen könnte. Dafür, dass die Beschwerdeführerin einen irreparablen Schaden erlitte, wenn sie die im Ausgangsverfahren angegriffenen Produkte erst nach Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens wieder in Verkehr bringen könnte oder gegebenenfalls zusätzliche Kennzeichnungen anbringen müsste, ist nichts ersichtlich. Dem Schutz des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren wird - systemimmanent - durch die Schadensersatzpflicht gemäß § 945 ZPO Rechnung getragen: Kommt es infolge der Vollziehung zu Schäden beim Antragsgegner, sind diese vom Antragsteller verschuldensunabhängig zu ersetzen. Vorliegend ist zudem dem Umstand Rechnung zu tragen, dass an der Rechtskonformität von Medizinprodukten ein hohes Allgemeininteresse besteht.
Zudem stelle sich die Terminierung der Verhandlung über den Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung als ausreichend zeitnah dar, um eine zügige Verfahrensführung zu gewährleisten. Damit erhalte die Beschwerdeführerin die Möglichkeit, sich im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zeitnah zu äußern und ihre Argumente umfassend zu Gehör zu bringen. Von einem „einseitigen Geheimverfahren über einen längeren Zeitraum“ könne bei dieser Sachlage keine Rede sein.
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