EuGH: Deutsche Regelung zum Wertersatz im Onlinehandel unzulässig

Heute traf der EuGH seine mit Spannung erwartete Entscheidung zu der Frage, ob ein Händler für die Benutzung der Ware Wertersatz verlangen kann. Demnach verstößt die deutsche Regelung, wonach ein Verbraucher allein für die bloße Möglichkeit der Nutzung während der Widerrufsfrist zahlen muss, gegen die europäische Fernabsatzrichtlinie. Nur in Ausnahmefällen dürfe Wertersatz verlangt werden, nämlich wenn der Verbraucher die Ware gegen "Treu und Glauben" nutzt. Doch wann dies der Fall ist, bleibt völlig unklar.

Der zugrundeliegende Fall

Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist die Rückabwicklung eines Fernabsatzvertrags. Die Parteien des Ausgangsverfahrens streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, im Rahmen der Rückgewähr des Kaufpreises diesen um den Wertersatz einer durch die Klägerin erfolgten Nutzung zu vermindern.

Aufgrund eines Internet-Angebots der Beklagten erwarb die Klägerin bei ihr am 2. Dezember 2005 ein gebrauchtes Notebook zum Kaufpreis von 278,00 Euro. Im August 2006 kam es zu einem Defekt des Displays des Computers. Am 7. November 2006 wurde durch die Klägerin der Widerruf des Kaufvertrags erklärt, und das Notebook wurde der Beklagten Zug um Zug gegen Rückzahlung des Kaufpreises angeboten.

Die Beklagte hat gegen die Klageforderung eingewandt, dass die Klägerin jedenfalls für ihre Nutzung des Notebooks für ca. acht Monate Wertersatz zu leisten habe. Bei einem vergleichbaren Notebook liege der Mietpreis im Marktdurchschnitt bei 118,80 Euro für drei Monate, so dass sich für die Nutzungszeit der Klägerin ein Wertersatz von 316,80 Euro ergebe, was dem geltend gemachten Zahlungsanspruch entgegengehalten werden könne.

EuGH-Vorlage des AG Lahr

Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Lahr beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Bestimmungen des Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 97/7/EG dahin auszulegen, dass diese einer nationalen gesetzlichen Regelung entgegensteht, die besagt, dass der Verkäufer im Falle des fristgerechten Widerrufes durch den Verbraucher Wertersatz für die Nutzung des gelieferten Verbrauchsgutes verlangen kann?

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH weist zunächst noch einmal auf die Regelungen der Fernabsatzrichtlinie hin:

Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Richtlinie 97/7 sind die einzigen Kosten, die dem Verbraucher infolge der Ausübung seines Widerrufsrechts auferlegt werden können, die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Waren.

In diesem Zusammenhang ergibt sich aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 97/7, dass dieses Verbot, dem Verbraucher andere Kosten als die der unmittelbaren Rücksendung der Waren aufzuerlegen, gewährleisten soll, dass das in dieser Richtlinie festgelegte Widerrufsrecht „mehr als ein bloß formales Recht“ ist. Wäre dieses Recht nämlich mit negativen Kostenfolgen verbunden, könnte dies den Verbraucher davon abhalten, von diesem Recht Gebrauch zu machen.

Verbraucher kann Ware nicht vorab sehen

Außerdem ergibt sich aus demselben Erwägungsgrund, dass das Widerrufsrecht den Verbraucher in der besonderen Situation eines Vertragsabschlusses im Fernabsatz schützen soll, in der er „keine Möglichkeit hat, vor Abschluss des Vertrags das Erzeugnis zu sehen oder die Eigenschaften der Dienstleistung im Einzelnen zur Kenntnis zu nehmen“. Das Widerrufsrecht soll also den Nachteil ausgleichen, der sich für einen Verbraucher bei einem im Fernabsatz geschlossenen Vertrag ergibt, indem ihm eine angemessene Bedenkzeit eingeräumt wird, in der er die Möglichkeit hat, die gekaufte Ware zu prüfen und auszuprobieren.

Generelle Auferlegung eines Wertersatzes unzulässig

Ausgehend von den Zielen der Fernabsatzrichtlinie stellt der EuGH fest, dass die generelle Auferlegung eines Wertersatzes für die Nutzung der durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekauften Ware mit den genannten Zielen unvereinbar ist.

Falls nämlich der Verbraucher einen solchen pauschalierten Wertersatz allein deshalb leisten müsste, weil er die Möglichkeit hatte, die durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekaufte Ware in der Zeit, in der er sie im Besitz hatte, zu benutzen, könnte er sein Widerrufsrecht nur gegen Zahlung dieses Wertersatzes ausüben.

Eine solche Folge liefe eindeutig dem Wortlaut und der Zielsetzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Richtlinie 97/7 zuwider und nähme insbesondere dem Verbraucher die Möglichkeit, die ihm von der Richtlinie eingeräumte Bedenkzeit völlig frei und ohne jeden Druck zu nutzen.

Hier stellt sich für mich die Frage, ob der europäische Gesetzgeber eine "Nutzung" oder nur ein "Ausprobieren" der Ware während der Widerrufsfrist beabsichtigt hat. Ich meine, dass die Möglichkeit der Nutzung NICHT beabsichtigt war. Anders sieht dies offenbar der EuGH.

Effektivität des Widerrufsrechts beeinträchtigt

Außerdem - so der EuGH - würden die Wirksamkeit und die Effektivität des Rechts auf Widerruf beeinträchtigt, wenn dem Verbraucher auferlegt würde, allein deshalb Wertersatz zu zahlen, weil er die durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekaufte Ware geprüft und ausprobiert hat. Da das Widerrufsrecht gerade zum Ziel hat, dem Verbraucher diese Möglichkeit einzuräumen, kann deren Wahrnehmung nicht zur Folge haben, dass er dieses Recht nur gegen Zahlung eines Wertersatzes ausüben kann.

Wertersatz-Verbot soll nicht über das Ziel hinausgehen

Zugunsten der Händler hebt der EuGH allerdings hervor, dass das Verbot, den Verbraucher durch Wertersatz von der Ausübung des Widerrufsrechtes abzuhalten, nicht über die Ziele der Fernabsatzrichtlinie hinausgehen dürfen. Diese Richtlinie habe, auch wenn sie den Verbraucher in der besonderen Situation eines Vertragsabschlusses im Fernabsatz schützen soll, nicht zum Ziel, ihm Rechte einzuräumen, die über das hinausgehen, was zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts erforderlich ist.

Demzufolge stehen die Zielsetzung der Richtlinie 97/7 und insbesondere das in ihrem Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 festgelegte Verbot grundsätzlich Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, wonach der Verbraucher einen angemessenen Wertersatz zu zahlen hat, wenn er die durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekaufte Ware auf eine mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung unvereinbare Art und Weise benutzt hat.

Mitgliedsstaaten können Einzelheiten regeln

Aus dem letzten Satz des 14. Erwägungsgrundes der Richtlinie 97/7 ergebe sich hierzu, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, weitere Bedingungen und Einzelheiten für den Fall der Ausübung des Widerrufsrechts festzulegen. Diese Befugnis sei jedoch unter Beachtung der Zielsetzung dieser Richtlinie auszuüben und darf insbesondere nicht die Wirksamkeit und die Effektivität des Rechts auf Widerruf beeinträchtigen.

Das wäre z. B. dann der Fall, wenn die Höhe eines Wertersatzes der in der vorstehenden Randnummer genannten Art außer Verhältnis zum Kaufpreis der fraglichen Ware stünde oder wenn die nationale Regelung dem Verbraucher die Beweislast dafür auferlegte, dass er die Ware während der Widerrufsfrist nicht in einer Weise benutzt hat, die über das hinausgeht, was zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts erforderlich ist.

Nationale Gerichte müssen Vorgaben berücksichtigen

Weiterhin betonte der EuGH, es sei Sache des nationalen Gerichts, den Rechtsstreit, mit dem es konkret befasst ist, im Licht dieser Grundsätze unter gebührender Berücksichtigung aller seiner Besonderheiten zu entscheiden, insbesondere der Natur der fraglichen Ware und der Länge des Zeitraums, nach dessen Ablauf der Verbraucher aufgrund der Nichteinhaltung der dem Verkäufer obliegenden Informationspflicht sein Widerrufsrecht ausgeübt hat.

Fazit

Der EuGH hat entschieden, dass die Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Richtlinie 97/7 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach der Verkäufer vom Verbraucher für die Nutzung einer durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekauften Ware in dem Fall, dass der Verbraucher sein Widerrufsrecht fristgerecht ausübt, generell Wertersatz für die Nutzung der Ware verlangen kann.

Diese Bestimmungen stehen jedoch nicht einer Verpflichtung des Verbrauchers entgegen, für die Benutzung der Ware Wertersatz zu leisten, wenn er diese auf eine mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung unvereinbare Art und Weise benutzt hat, sofern die Zielsetzung dieser Richtlinie und insbesondere die Wirksamkeit und die Effektivität des Rechts auf Widerruf nicht beeinträchtigt werden; dies zu beurteilen ist Sache des nationalen Gerichts.

Klar ist, dass nun die deutschen Regelungen zum Rücktrittsrecht und auch die Muster-Widerrufsbelehrung überarbeitet werden müssen. Klar ist auch, dass ein Verbraucher, der ein Ware vorsätzlich oder grob fahrlässig beschädigt, Wertersatz leisten muss. Andererseits muss ein Kunde, der die Ware vorsichtig ausprobiert, keinen Wertersatz leisten, wie dies bislang schon der Fall war.

Leider ist auch nach EuGH-Entscheidung völlig unklar, in welchen Fällen der Verbraucher Wertersatz für Verschlechterungen der Ware infolge "bestimmungsgemäßer Ingebrauchnahme" leisten muss. Wenn ich die Entscheidung richtig verstehe, soll der Verbraucher im Grundsatz hierzu NICHT verpflichtet sein. D.h. wenn ein Kunde das Navigationssystem für die Urlaubsreise nutzt und danach widerruft, dürfen ihm keine Kosten in Rechnung gestellt werden.

Lediglich in Fällen, die mit den Grundsätzen von "Treu und Glauben" (§ 242 BGB) nicht vereinbar sind, dürften von dem Kunden hierfür Wertersatz verlangt werden. Viel schwammiger hätte es der EuGH wohl kaum formulieren können. Ob damit z.B. der berühmte Friteusenfall gemeint ist oder Fälle, in denen der Verbraucher Itimschmuck, Zahnbürsten o.ä. "testet", ist völlig unklar und soll nun den nationalen Gerichten überlassen werden.

Der EuGH hat damit zwar nicht so radikal entschieden, wie es die Gereralanwältin Trstenjak empfohlen hatte, die einen Wertersatzanspruch des Händlers gänzlich verbieten wollte. Von Rechtssicherheitund Gerechtigkeit im Onlinehandel sind wir aber so weit entfernt wie lange nicht mehr zuvor. Es wird höchste Zeit, dass die aus den 1990er Jahren stammende Fernabsatzrichtlinie, die noch vom "Tele-Einkauf" des 27teiligen Bauchwegtrainers ausging, durch die geplante Verbraucherrechtsrichtlinie abgelöst wird, die in der Wertersatzfrage dem Onlinehandel angemessen ist. Denn vielfach greift die zugrunde liegende Annahme, der Verbraucher habe die Ware vorher nicht prüfen können, überhaupt gar nicht, sondern der Kunde will eine aus dem stationären Handel bekannte Ware einfach möglichst günstig im Internet erwerben. Das weit reichende Widerrufsrecht ohne Wertersatz ist in solchen Fällen zutiefst ungerecht und hat weder etwas mit Verbraucherschutz noch mit Förderung des elektronischen Handels zu tun.

Für die nahe Zukunft steht zu befürchten, dass das Internet zum globalen Leihhaus mutiert, weil der Verbraucher in den meisten Fällen nicht befürchten muss, dass ihm für die Nutzung der gekauften Ware Wertersatz in Rechnung gestellt wird. Von den anstehenden Abmahnungen der Anwälte, die wegen falscher Widerrufsbelehrungen wieder in den Startlöchern stehen, ganz zu schweigen. (cf)

EuGH, Urteil v. 3.9.2009, C-489/07

Siehe auch

Verbietet der EuGH Wertersatz für Nutzung der Ware während der Widerrufsfrist?

Urteil des EuGH im Volltext

03.09.09