Mit Inkrafttreten des Anti-Abmahn-Gesetzes wurden in § 8c Abs. 2 UWG bestimmte Fallgruppen missbräuchlicher Abmahnungen aufgenommen, u.a. auch dann, wenn ein Mitbewerber den Gegenstandswert für eine Abmahnung zu hoch ansetzt oder eine offensichtlich überhöhte Vertragsstrafe gefordert wird. Das OLG Bamberg (Beschl. v. 1.2.2021 – 3 W 4/21) stellte nun klar, dass diesen Fallgruppen nur Indizwirkung zukomme und eine umfassende Abwägung der Gesamtumstände notwendig sei.
Die Parteien sind Wettbewerber beim Vertrieb von Werbeartikeln. Die Antragstellerin beschäftigt laut ihrer eigenen Darstellung rund 100 Mitarbeiter, die Antragsgegnerin bei einem Jahresumsatz von 1,3 Mio. € sechs Mitarbeiter. Die Antragsgegnerin bietet verschiedene Lebensmittel mit der Bezeichnung „Bio“ bzw. „Öko“ an, u.a. „Bio Kräuter Triple“, „Bio-Bärchen“ und „Bio Chia-Riegel“, verfügte jedoch über keine Öko-Zertifizierung. Die Antragsstellerin ließ die Antragsgegnerin deswegen am 3.12.2020 abmahnen und forderte die Abgabe einer Unterlassungserklärung bei Zahlung einer Vertragsstrafe von 10.000,00 € und Erstattung der Kosten der anwaltlichen Tätigkeit in Höhe einer 1,3 Gebühr auf der Basis eines Gegenstandswerts von 100.000,00 €. Die Antragsgegnerin gab die geforderte Unterlassungserklärung nicht ab.
Das LG Würzburg (Beschl. v. 17.12.2020 – 1 HK O 2375/20) hatte den Verfügungsantrag der Antragsstellerin mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Antragstellerin rechtsmissbräuchlich handle; sowohl der Gegenstandswert als auch die Vertragsstrafe seien überhöht. Der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde der Antragstellerin hatte das Landgericht nicht abgeholfen.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Antragsstellerin vor dem OLG Bamberg hatte Erfolg und führte zum Erlass der einstweiligen Verfügung. Es bestehe der geltend gemachte Unterlassungsanspruch.
Das OLG Bamberg stellte fest, dass die Antragsstellerin nicht rechtsmissbräuchlich handle. Zur Feststellung sei eine Gesamtwürdigung aller Umstände erforderlich, so das Gericht. Diese Prüfung und Abwägung habe das Landgericht nicht durchgeführt.
Ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen ist nur dann anzunehmen, wenn die vollständige Betrachtung der gesamten Umstände ergibt, dass der Anspruchsberechtigte mit der Geltendmachung des Anspruchs überwiegend sachfremde, für sich gesehen nicht schutzwürdige Interessen und Ziele verfolgt und diese als die eigentliche Triebfeder und das beherrschende Motiv der Verfahrenseinleitung erscheinen. Dies hat sich auch nach der Einführung der Vorschrift des § 8c UWG nicht geändert […].
Die für die Annahme eines derartigen Rechtsmissbrauchs erforderliche sorgfältige Prüfung und Abwägung der maßgeblichen Einzelumstände (BGH GRUR 2019, 199 Rn. 29) hat das Landgericht jedoch nicht durchgeführt. Die Entscheidung des Landgerichts lässt überdies eine zureichende Auseinandersetzung mit den in § 8c Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4 UWG Tatbeständen vermissen. Hierbei hätte es festgestellt, dass die von ihm angeführten Umstände (Ansetzung eines Gegenstandswerts und einer Vertragsstrafe, die nach dem Dafürhalten des Landgerichts mehr als Doppelte über dem Angemessenen liegen) vorliegend nicht geeignet sind, einen Rechtsmissbrauch zu indizieren.
Nach § 8c Abs. 2 Nr. 3 UWG stellt ein überhöhter Gegenstandswert ein Indiz für einen Rechtsmissbrauch dar. Da die Festsetzung des Streitwerts jedoch gem. § 51 Abs. 2 GKG im Ermessen steht, könne ein Indiz für einen Rechtsmissbrauch nur dann angenommen werden, wenn der Gegenstandswert selbst bei vollständiger Ausschöpfung dieses weiten Ermessensspielraums als nicht mehr sachgerecht einzuordnen sei, so das Gericht. Die Antragsstellerin legte der Abmahnung einen Gegenstandswert i.H.v. 100.000 € zugrunde, für das Landgericht erschien hingegen ein Wert i.H.v. 45.000 € angemessen. Das OLG verwies jedoch auf andere Oberlandesgerichte, die im Falle nicht ordnungsgemäß gekennzeichneter Lebensmittel höhere Gegenstandswerte annehmen, weshalb nicht auf einen Rechtsmissbrauch geschlossen werden könne.
Soweit das Landgericht einen Rechtsmissbrauch der Antragstellerin auf einen überhöhten Gegenstandswert stützt, hat es zwar insoweit zutreffend ausgeführt, dass bereits vor der Einführung des § 8c Abs. 2 Nr. 3 UWG anerkannt war, dass die Angabe eines überhöhten Gegenstandswerts ein Indiz für einen Rechtsmissbrauch sein kann. Da die Festsetzung des Streitwerts jedoch gem. § 51 Abs. 2 UWG im Ermessen steht, kann ein Indiz für einen Rechtsmissbrauch allenfalls angenommen werden, wenn der Gegenstandswert selbst bei vollständiger Ausschöpfung des ohnehin weiten Ermessensspielraums als nicht mehr sachgerecht einzuordnen ist. Abgesehen davon führt die unangemessen hohe Ansetzung allein regelmäßig nicht zur Annahme eines Rechtsmissbrauchs (BGH GRUR 2019, 966 Rn. 47).
Nach dieser Maßgabe ist zwar grundsätzlich nichts gegen die Annahme des Landgerichts einzuwenden, dass vorliegend ein Streitwert von 15.000,00 € für jeden Verstoß und daher insgesamt 45.000,00 € als Hauptsachestreitwert angemessen erscheinen. Dem Senat, der sein Ermessen bei der Streitwertbemessung grundsätzlich eher zurückhaltend ausübt, ist jedoch auch die divergierende Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte bekannt. Gerade bei Unterlassungsverfügungen bei dem Inverkehrbringen nicht genügend gekennzeichneter Lebensmittel werden teilweise erheblich höhere Streitwerte angenommen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2016 - I-15 U 8/15; OLG Koblenz, Urteil vom 26.09.2018 - 9 U 521/18). Aus diesem Grund kann aus dem hier von der Antragstellerin angenommenen Gesamtstreitwert von 100.000,00 € nicht auf einen Rechtsmissbrauch geschlossen werden.
Auch die Höhe der Vertragsstrafe spreche nicht für einen Rechtsmissbrauch der Antragsstellerin.
Nach der Vorschrift des § 8c Abs. 2 Nr. 4 UWG ist ein Rechtsmissbrauch „im Zweifel“ anzunehmen, wenn „offensichtlich“ eine überhöhte Vertragsstrafe gefordert wird. Die vom Landgericht zur Begründung des Rechtsmissbrauchs herangezogene Erwägung, dass nach der Rechtsprechung des OLG Brandenburg (Urteil vom 26.06.2020, 6 U 119/19) für die Höhe der Vertragsstrafe „allenfalls ein Betrag von 5.000,00 € angemessen sein dürfte“, erfüllt noch nicht einmal ansatzweise die Voraussetzungen. Aus dem zitierten Urteil, das einen nicht vergleichbaren Sachverhalt betraf (einmalige Telefaxwerbung), ist dies nicht zu entnehmen. Das Landgericht trägt daneben nicht dem Umstand Rechnung, dass die Bestimmung einer Vertragsstrafe mit vielen Unsicherheiten einhergeht, weshalb nur eindeutige und erkennbare Fälle von der Vorschrift des § 8c Abs. 2 Nr. 4 UWG erfasst sind (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Feddersen, 39. Aufl. 2021, UWG § 8c Rn. 20). Vorliegend kann der Senat nicht feststellen, dass die Antragstellerin mit ihrem Vertragsstrafeverlangen die in § 13a Abs. 1 UWG niedergelegten Kriterien in einer Art und Weise überspannt hätte, dass von einer offensichtlichen Überhöhung auszugehen wäre. Dagegen spricht der vom Landgericht selbst bei der Bestimmung des Streitwerts zutreffend herangezogene Umstand, wonach die unerlaubte Verwendung des Begriffs „bio“ die wirtschaftlichen Belange des Mitbewerbers und damit auch die der Antragstellerin wesentlich beeinträchtigen. Daneben besteht, wie das Landgericht ebenfalls richtig ausführt, an der Einhaltung der entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen zum Schutze der Verbraucher ein Allgemeininteresse. Diese Umstände verbieten die Anwendung der in Vorschrift des § 13a Abs. 3 UWG niedergelegte Bagatellgrenze, sondern lassen die verlangte Vertragsstrafe von 10.000,00 € jedenfalls nicht als „offensichtlich überhöht“ erscheinen.
Der Vorwurf „Rechtsmissbrauch“ wird bei vielen Abmahnungen schnell erhoben, in den wenigsten Fällen erkennen die Gerichte diesen Einwand allerdings an. Mit Inkrafttreten des Anti-Abmahngesetzes am 2.12.2020 wurden in § 8c UWG nun gewisse Fallgestaltungen für die Annahme rechtsmissbräuchlicher Abmahnungen ins Gesetz aufgenommen. Ihnen kommt jedoch nur Indizwirkung für einen Missbrauch zu. Erforderlich ist auch hier eine umfassende Würdigung der Gesamtumstände. Eine Beratung durch einen auf Abmahnungen im E-Commerce spezialisierten Anwalt ist dringend zu empfehlen.
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