Seit einigen Jahren tobt im E-Commerce ein Krieg der Zahlen. HDE gegen bevh, bevh gegen Exciting Commerce und Exciting Commerce gegen HDE. Es geht um die Frage, wie groß ist der Umsatz und das Wachstum im Online-Handel in Deutschland wirklich. Die aktuellen Branchezahlen des bevh haben die Diskussion wieder angeheizt.
Was hat die Entwicklung des E-Commerce mit einem Hockeyschläger zu tun? Jochen Krisch, seines Zeichens Gründer des Blogs Exciting Commerce und Veranstalter der K5-Konferenz, hat erstmals 2011 ein Hockey-Stick-Szenario für den E-Commerce in Deutschland entwickelt und seitdem immer wieder aktualisiert.
Der Hockey-Stick Effekt beschreibt eine prozentuale Wachstumsentwicklung von Unternehmen oder Branchen. Nach anfänglichen Verlusten oder einem nur marginalem Wachstum kommt es zu einer dramatischen Umsatzsteigerung. Der Kurvenverlauf in der grafischen Darstellung erinnert an die Form eines Hockeyschlägers.
Wie viel Umsatz im Online-Handel in Deutschland gemacht wird, darüber zerreden sich viele Branchenteilnehmer die Köpfe. Dabei konzentriert sich die Diskussion auf die Erhebungen von bevh und HDE. Welcher Verband gibt die wahre Stärke des Online-Handels am genauesten wieder?
Eine Frage, die für die strategische Unternehmensentwicklung jedes Shopbetreibers von großer Bedeutung ist, weiß Prof. Dr. Gerrit Heinemann, Leiter eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein:
"Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Marktentwicklungen sind in den meisten Unternehmen beispielsweise ein wichtiger Bestandteil von Investitionsentscheidungen", erklärt Prof. Heinemann. "Daher ist es notwendig, dass Unternehmer verlässliche Branchenzahlen erhalten", fährt er fort.
Aus diesem Grund geht der Wirtschaftsprofessor auch hart mit dem bevh-Zahlenwerk ins Gericht und hält die HDE-Erhebung für realistischer. Beim bevh kritisiert Prof. Heinemann vor allem folgende Aspekte:
Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass auch der bevh, genau wie Professor Heinemann und andere Branchenkenner, das Ziel hat, ein möglichst umfassendes und realistisches Bild der Branche zu zeichnen. Deshalb hat sich der Verband 2007 dafür entschieden, statt einer Händler- eine Konsumentenbefragung durchzuführen.
"Wir publizieren die Ergebnisse dieser Studie, unabhängig davon, wie sie ausfallen und ob sie für die Branche – oder Teile davon – erfreulich sind oder nicht. Dabei stellen wir die Ergebnisse gern zur Diskussion und laden gern zur Interpretation sowie einem konstruktiven Austausch über eine Weiterentwicklung der Methodik ein. Mit der GIM als Partner haben wir zudem ein ganzes Team von hervorragenden Marktforschern an der Hand", reagiert eine Verbandssprecherin auf die Anwürfe Heinemanns.
Der bevh führt seine Untersuchung jährlich durch und erhebt so verschiedenste Daten – unter anderem zu Informations-, Bestell- und Bezahlverhalten. Außerdem werden auf Grundlage dieser Datenbasis per Hochrechnung die Umsätze ermittelt.
"Dabei gehen wir nach einem statistisch üblichen, sauberen und transparenten Verfahren vor. Einen Überblick über das Studiendesign und die Anpassungen mit Beginn der Erhebung 2013 findet man in diesem Blogbeitrag", skizziert die Sprecherin die Erhebungsmethodik.
Der bevh analysiere und bewerte die Ergebnisse der Studie auch mit Hilfe seiner Expertise und mit Blick auf verfügbare Unternehmens- und Branchenzahlen, die häufig zeitlich nachgelagert veröffentlicht würden.
"Hier haben wir in der Vergangenheit und in diesem Jahr auch immer wieder eine Bestätigung der Tendenzen vorgefunden. Ein Beispiel: Der E-Book-Bericht des Börsenvereins des deutschen Buchhandels weist für 2014 aus, dass rund 6 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung im vergangenen Jahr E-Books gekauft haben, unsere Studie ergibt einen Wert von 8 Prozent. Die Kategorie "Medien" bei den Digitalen Gütern, die u.a. E-Books umfasst, machte 2014 0,5 Mrd. aus und gleicht damit nicht den Rückgang bei den physischen Gütern aus."
Auch Jochen Krisch ist mit seinem Hockey-Stick Szenario eine der Konfliktparteien im „Krieg der Zahlen“. Er betrachtet in seinem Szenario die „offiziellen“ Branchenzahlen kritisch und geht offensichtlich von einem höheren Wachstumspotenzial für die Branche aus, als es die Verbände bevh und HDE in ihren Erhebungen ausweisen:
"Wahrscheinlicher ist es, dass die Marktentwicklung in den kommenden Jahren weiter an Dynamik gewinnt. Die Professionalisierung schreitet voran, und sobald bestimmte kritische Umsatzschwellen überschritten werden, kommen die üblichen Skaleneffekte zum Tragen. Die Fixkosten sinken im Vergleich zum Umsatz, machen den Handel online noch wettbewerbsfähiger, was zu zusätzlichen Umsätzen/Marktanteilen führt."
Konkret wirft er den Verbänden vor, sie würden "zunehmend ungenierter Stimmung gegen Online-Spezialisten machen und dabei versuchen ihrer angestammten Klientel nach dem Mund zu reden."
In seinen Analysen legt er großen Wert auf die Geschäfts- und Wachstumszahlen der Branchengrößen wie Zalando, Amazon, Otto etc., die er als wichtige Indikatoren für eine reale Marktbewertung ansieht.
Ein kurzer Blick auf die aktuellen Branchenzahlen erhoben vom Bundeverband E-Commerce und Versandhandel (bevh) für das Jahr 2014:
Mit der Beantwortung dieser Frage kann sich ein Autor leicht viele Freunde aber zugleich ebenso viele Feinde schaffen. Das Hockey-Stick-Szenario ist sicherlich eine zutreffende Beschreibung des künftigen Wachstumsverlaufs des Online-Handels. Ein Blick auf die Zeitleiste bei HDE und bevh zeigt, dass beide Verbände soweit von der Modellrechnung Krischs nicht entfernt sind.
Aus dem Krieg der Zahlen wird langsam aber sicher ein Krieg um die Deutungshoheit und persönliche Eitelkeiten. Der Ton wird zumindest zunehmend ruppiger. Natürlich verfolgen alle involvierten Parteien auch ihre eigenen Ziele. Ja, die Verbände haben auch die Interessen ihrer Mitglieder im Auge. Aber das liegt nun einmal im Wesen eines Verbandes. Warum sonst zerfasert der (Online)Handel in eine Vielzahl von Partikularverbänden.
Aber auch Krisch hat als Berater und Veranstalter eines Branchenevents, ein Interesse daran, dass seine Klientel gut dasteht. Da er verständlicherweise keine alternativen Branchenzahlen selber erheben kann, nutzt er die offenen Flanken der Verbände, um hier anzugreifen.
Weil statistische Erhebungen gleich welcher Art auch immer einen Anteil Glaskugel enthalten, sollte vor allem eines unterlassen werden: Die Zahlen der Branche und deren Interpretation unter Ausschaltung des eigenen Sachverstandes kritiklos zu übernehmen.