Dass die E-Commerce-Umsätze noch einige Zeit weiter steigen werden, ist unter Experten unstrittig. Allerdings befinden wir uns, wie Joachim Graf im März überzeugend analysiert hat, am Ende der undifferenzierten, auf Exzellenz im „Heinemann-Kegel“ (Alexander Graf) beruhenden Shop-Strategien.
Ob und in welchem Ausmaß es zu dem von Joachim Graf prognostizierten Sterben bei den Onlinehändlern kommen wird, durch das auch Experten wie Kai Hudetz vom IFH Köln oder Marcus Diekmann von shopmacher.de zwischen 50 und 80 Prozent der Online-Pureplayer gefährdet sehen, ist nicht mein Thema. Ich frage mich eher, ob wir tatsächlich schon den Moment erreicht haben, an dem E-Commerce nicht mehr durch strukturelle Faktoren (höhere Reichweite in der Bevölkerung, bessere technologische Infrastruktur etc.) wächst.
Trotz der genannten Bedrohungsszenarien für einzelne Shopanbieter, gehen Graf und Hudetz davon aus, dass weiter Nachfrage aus dem stationären in den Onlinehandel abwandert. Die strukturellen Folgen bekommt, so Prof. Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein, als erstes der Handel in den Unter- und Mittelzentren zu spüren. Mehr Leerstand, weniger Frequenz: Eine logische Folge daraus, dass der „Lauf“ dort weniger Sortimentstiefe erlaubt und damit der Händler gegen das Internet immer mehr ins Hintertreffen gerät.
Diese „Verödung der Innenstädte“ dem Onlinehandel anzulasten, liegt nahe und zielt auf die historisch auf dem Land stärker verankerte Distanzhandels-Neigung. Klar, wo in Großstädten Convenience, Emotion und Auswahl kein Thema sind, fehlen dem klassischen Versandhandel wichtige Argumente. Seit Jahren liegt die Zahl der Distanzhandelskäufer in Städten und Gemeinden bis maximal 100.000 Einwohner über der in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern, wie die folgende Grafik zeigt:
Dass die Zahl der Nutzer des Distanzhandels insgesamt auf 70 Prozent konvergiert, überrascht mich nicht. Ich habe als Chefredakteur des "Versandhausberaters" mehrere Jahre lang eigene Erhebungen mit TNS Emnid durchgeführt, bei der die magischen 70 Prozent im Durchschnitt der Bevölkerung wie zementiert erschienen – E-Commerce-Zuwachs hin oder her. Auf den ersten Blick sieht es also so aus, als würden die Mittel- und Unterzentren natürlich zur ersten Beute der Onlinehändler werden. Wirklich?
Wenn man die E-Commerce-Umsätze insgesamt nach Großstädten vs. Mittel- und Kleinstädten bzw. Gemeinden aufteilt, dreht sich das Bild vollständig: Fast zwei Drittel der Branchenumsätze im E-Commerce entfallen gerade nicht auf Grund- und Mittelzentren.
Dieses Verhältnis lässt sich behelfsweise dadurch erklären, dass E-Commerce zunächst ein urbanes Phänomen war und mit der technischen Infrastruktur dort einen Vorsprung erarbeitet hat. Intensivnutzer des Internets und junge, E-Commerce-affine Bevölkerung finden sich vor allem in den großen Agglomerationen. Die Zahlen zeigen, dass in den Großstädten die Pureplayer eine viel höhere prozentuale Käuferzahl haben, wohingegen in den Kleinstädten der klassische Versender seine Kundschaft stärker verteidigt. Und genau diese Käufer bei Pureplayern wiederum - wie generell die Online-Käufer - haben eine viel höhere Kauffrequenz als im klassischen Versandhandel.
Ein Blick auf die Bevölkerung zeigt allerdings, dass noch immer zwei Drittel der Deutschen in Städten und Gemeinden unter 100.000 Einwohnern leben. Wir haben laut aktueller Statistik 80 Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern, in denen 31,4 Prozent der Bevölkerung leben.
Und damit komme ich wieder zur Ausgangsfrage: Erlahmt das „natürliche“ Wachstum des E-Commerce oder gibt es weiter strukturbedingt Rückenwind für den Onlinehandel? Trifft die wachsende Zahl der Anbieter im Markt auf eine gesättigte Online-Nachfrage in weitgehend erschlossenen Warenkategorien ohne jungfräuliche Nischen?
Tatsächlich ist es offenbar so, dass die Einzelhändler in den Großstädten aktuell den höchsten Druck vom Onlinehandel bekommen. Gemildert wird dieser Abschmelzprozess durch den Kaufkraftzufluss von Pendlern und Touristen.
In den Grund- und Mittelzentren dagegen ist E-Commerce noch gar nicht in vollem Ausmaß angekommen. Hier werden sich die Effekte erst in den kommenden Jahren gänzlich zeigen - und kumulieren. Denn Mittel- und Unterzentren stehen eben nicht nur wegen zunehmender Online-Käufe unter Druck, sondern aus einem ganzen Bündel an Gründen: schrumpfende und alternde Bevölkerung, Veränderung der Betriebstypen und Lagen (weg von der Innenstadt, hin zu „nicht integrierten Lagen), und nicht zuletzt Kaufkraftabfluss. Das Internet kann da vielleicht eher Segen als Fluch sein...
Martin Groß-Albenhausen ist Geschäftsführer der BVH Service GmbH in Berlin und betreut im Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland e.V. (bevh) die Themen E-Commerce, Social Media und Marketing. Zuvor war er mehr als zehn Jahre Chefredakteur und Herausgeber des Branchendienstes "Versandhausberater".