Der Springer Verlag versucht der „Gratiskultur“ im Web Herr zu werden – ohne ihre Vorzüge zu negieren. Als „löchrige Paywall“ wird das Konzept bezeichnet, weil in Suchmaschinen, Aggregatoren und dem Social Web platzierte Artikel-Links an der Paywall vorbeigeleitet werden sollen.

Wer konsumieren möchte, muss zahlen.

Mitten in der Debatte um das Leistungsschutzrecht erklärt Springer – eigentlich ein Befürworter des LSR – damit, dass nicht Google und nicht die Netzökonomie das Problem der Verlagsbranche ist. Vielmehr ist es die mangelnde Fähigkeit der Verlage selbst, ihr Produkt so zu entwickeln, dass es noch differenziert genug ist, um Abonnenten zu finden. Und traut sich selbst zu, das zu ändern – u.a. mit einem passenden Payment-Modell.

Die Konstruktion der 20 kostenlosen Schnupperartikel im Monat setzt wohl nicht einmal eine Registrierung voraus. Was umgekehrt bedeutet, dass die Zugriffe über Cookies oder andere digitale Fingerabdrücke registriert werden. Und das, während in der EU über strengere Regeln für das Platzieren solcher Identifikatoren gestritten wird, und während fast alle Browser-Anbieter, „Privacy by Default“ vorschlagen.

Zweifellos ein geschicktes Heranführen der Leser an „Paid Content“, aber nach meiner Ansicht erst wirklich spannend, wenn dahinter in den Strukturen aufgeräumt wird. Angebotsgestaltung und Preispolitik – das trifft im Rahmen des Pressevertriebs ein zentrales Thema des Interaktiven Handels. Wer die Argumentation des Chefredakteurs der Welt liest, findet dort eines nicht: eine Erläuterung, warum der Nutzer eigentlich noch die gedruckte Welt abonnieren soll. Welchen Vorzug hat die physische Ausgabe noch? Oder: was ist „besser“ an der Print-Ausgabe, dass ich dafür 42,90 Euro im Monat bezahle, statt 14,99 Euro für die komplette digitale Vielfalt inklusive gedruckter WamS?

Die Frage drängt sich auf, ob der Springer Verlag hier schon eine Antwort gefunden hat. Die Tendenzen sind überall offenkundig: Sinkende Auflagen, sinkende Absatzzahlen am Kiosk, Fragezeichen beim Verkauf im Handel, eine seit Jahren instabilere Abonnement-Basis… An einer Abschmelzung der Print-Erlöse und Aufbau von bezahlten Digitalerlösen, wie bei Springer intendiert, entscheiden sich Aussehen und Funktionsweisen des gesamten Verlags-Ökosystems.

Auf der anderen Seite entwickeln Händler, auch und gerade Online-Händler, munter Magaloge, weil sie darin eine attraktive Print-Komponente in der Customer Journey sehen. Gut aussteuerbar, nicht mehr als Verkaufs-, sondern als Impuls- und Bindungsinstrument sowie als Stützungsmaßnahme, um die Preise im Suchmaschinenmarketing im Griff zu halten. Print an sich ist kein Problem, aber Print ohne Mehrwert für den Nutzer und das Geschäftsmodell ist ein Problem.

So wie viele Händler ihren gesamten Einkaufs- und Vertriebsprozess (und auch die Logistik) auf das Web ausrichten mussten, müssen auch die Verlage sich vollständig neu erfinden. Wo die Interaktiven Händler das Produktdatenmarketing lernen mussten, ist für die Verlage essentiell, die Nachrichten mit Metadaten zu versehen, um ihre Relevanz zu bewahren. Der viel beschworene Qualitätsjournalismus ist nichts wert, wenn die geneigten Leser ihn nicht finden. Zugleich steht das Modell „Print für die Masse“ im Verlagswesen wie im Versandhandel längst auf der Kippe.

Die Versandhäuser mussten die aus der Katalogwelt übernommene Strecken- und Containerdenke aufgeben. „Unbundling“ ist auch das Stichwort für die Verlage. Sie werden mehr und mehr Content als digitale Abonnements verkaufen können – aber nicht mehr in der klassischen Zeitschriften-Containerform. Je besser die Verlage ihre Nutzer kennenlernen (Web-Exzellenz! Daten-Exzellenz!), um so eleganter können sie zugeschnittene, hoch relevante Mini-Abos zu kleinen Preisen verkaufen. Abonnement ist nicht aus der Mode – es bietet Entlastung, weil Vertrauen auf die Qualität existiert. Ein Ankerpreis kann dann der personalisierte Nachrichtenstream z.B. nur des Ressorts Wirtschaft für 9,99 Euro pro Monat sein, auf allen Geräten. Zwei Feeds für 14,99 – vielleicht auch gemixt aus “Welt” und “BILD”. Alle Kanäle für 29,99 Euro. Und wer dazu die Live-Übertragung seiner Lieblingssportart abonnieren möchte, zahlt 39,99 Euro. Netz ist Kooperation und neue Geschäftsmodelle!

Damit einhergehend steht auch die Druckindustrie samt ihren Dienstleistern vor einem Umbruch. Wie kann sie die Verlage (und Händler) darin unterstützen, in kleineren Auflagen und an mehr Orten präsent zu sein? Wer erfindet Print „rückwärts“ und auf einen konkreten Mehrwert hin, den der Rohstoff und physische Träger Papier bieten kann? Ich bin alt genug, um noch Autogrammkarten und Starschnitte aus der Bravo gesammelt und zusammengeklebt zu haben. Wie schneidet man seinen Star aus dem iPad? Wie geht das mit Schnittmustern für Mode? Die mobilen Endgeräte lehren uns die App-Denke: Neben dem Basisangebot müssen nützliche „Werkzeug“-Funktionalitäten entwickelt werden, um den Wiederzugriff zu sichern (kleine Reminiszenz an die Katalog-Terminologie). Welche App-Funktionalität bekommt Print, wenn es um die Verkaufsflächen-Optimierung entlastet wird?

Und die Kioske: Wie werden sie aussehen, und wie orchestrieren die Verlage diesen Offline-Kanal, damit auch dort ein „Kauferlebnis“ entsteht? Wundert es jemanden, dass Valora in der Schweiz die Kioske abgestoßen hat und stattdessen auf Brezel-Verkauf setzt?

Verlage und Versandhandel haben über Jahre eine enge und gute Kooperation gepflegt. Der Interaktive Handel und das Interaktive Verlagswesen können ähnliche und noch bessere Vertriebskooperationen schaffen. Mit neuen Wertschöpfungsmodellen für beide Seiten.

Über den Autor:

Martin Groß-Albenhausen ist Geschäftsführer der BVH Service GmbH in Berlin und betreut im Bundesverband des Deutschen Versandhandels (BVH) die Themen e-Commerce, Social Media und Marketing. Zuvor war er 13 Jahre Chefredakteur und Herausgeber des Branchendienstes “Versandhausberater”.

image_pdfPDFimage_printDrucken