Seitdem Otto-Vorstandschef Hans-Otto Schrader vor bald einem Jahr den Home Affaire-Katalog auf dem iPad mit Steve Jobs Aussage "This is magic" verknüpfte, verirrt sich eine ganze Zunft. Ein iPad kann den Katalog nicht ersetzten. Dafür sind beide Medien zu wenig miteinander kompatibel.
Die Begründung lesen Sie hier.
In diesen Tagen geht Stefan Meixner auf ibusiness.de der Frage nach, ob das iPad zu einer Renaissance des Katalogs führen wird. Die Frage drängt sich ja auch auf, weil Wischen und Blättern, die Gestaltung von virtuellen Doppelseiten auf ein Sofa-Medium nahe liegt.
Trotzdem ist es einfach falsch, so an Tablet-PCs heranzugehen. Vor allem zeigt es, dass die Macher den Mechanismus eines Katalogs einfach nicht verstanden oder verlernt haben. Denn die Emotionalität und Verkaufsleistung eines Kataloges speist sich aus mehr als gut gestalteten, verkäuferischen Doppelseiten und "Strecken". Hier mal ein paar (wirklich nur ein Ausschnitt!) der Treiber eines guten, bis heute funktionierenden Kataloges:
Eine Katalog-App hat all das nicht. Sie ist eines von potentiell unendlich vielen Thumbnails auf dem iPad, das zwar schöne Bilderwelten bietet, aber die gesamte Dramaturgie eines vollständigen Katalog-Konzepts vermissen lässt. Nur weil das Katalog-Knowhow schon so sehr verloren gegangen ist, dass heute kaum noch ein Versender die ganze Klaviatur der Kataloggestaltung beherrscht, kann sich eine zweidimensionale und damit viel flacherere Nachbildung eines Kataloges auf dem Tablet als "Magie" anheischig machen. Sie können nicht funktionieren. Sie können im Leben nicht die Produktivität eines Kataloges erreichen.
All die Punkte oben gehören zur "Emotion" eines Kataloges - nicht nur die schönen Bilder. Deshalb sind Catalog-Apps auf Tablets derzeit "Krücken für Krücken", um Jochen Krischs Redewendung zu strapazieren. Katalogversender sollten aufhören, eine Verlängerung der Vergangenheit von einem Zukunftsmedium zu erhoffen.
Das iPad und andere Tablets werden ganz neue Katalog-Arten bringen: Andere Navigation, andere Umfänge, vielleicht auch andere Steuerung der Blicke. Es bleiben bestimmte Regeln, die aber unabhängig vom Medium existieren: Gaze-Motion etwa, also die Führung der Augen des Betrachters durch die Haltung und Blickrichtung der Models. Oder die Anordnung von Text und Bild, um möglichst viel Information zu vermitteln.
Doch schon bei der Navigation ergeben sich völlig andere Möglichkeiten. Ich kann ja von links nach rechts, aber auch von oben nach unten navigieren. Warum ist das wichtig? Die Blickforschung hat gezeigt, dass der Nutzer weiterführende Informationen in der Regel unter einem Bild erwartet. Eine Katalogseite hatte dort sehr rasch die Pagination erreicht, die ja sehr wichtige eigene Botschaften enthielt (Orientierung + Bestellaufforderung via Hotline-Nummer, um nur zwei Elemente zu nennen). Damit kann man experimentieren.
Oder man nehme die bei Otto jetzt erstmals realisierte virtuelle, aber fotorealistische Szenerie. Sie erhält erstmals wirkliche Tiefe insofern, als der Nutzer sich (künftig "zu Echtzeit gerendert") in die Fotolocation hineinbewegen und auf der Seite zum Beispiel Produkte drehen kann. Kein Pop-up mit 360-Grad-Fotografie, sondern Interaktion.
Und weil die ganze Ansprache anders als beim physischen Katalog funktioniert, wird man über die Umfänge und die Häufigkeit der Tablet-Kataloge neu nachdenken müssen. Darum gilt auch und gerade bei den Tablets die Devise von Cortez - um das neue Terrain zu erobern, sollte man die Schiffe verbrennen. Man sollte neu denken.
Wer in den letzten Jahren die Katalog-Abteilung hat ausbluten lassen und dort kein Geld für experimentellen Umgang mit gedruckter Werbung mehr genehmigt hat, wird mit den dermaßen entkräfteten Katalogen auf dem iPad schon gar keine Erfolge mehr feiern. Wer sein Geschäft beherrscht - wie etliche Spezialversender mit exzellenten Print-Katalogen - kann auch neue Medien kreativ ausreizen.
Heißt: Print ist so tot oder lebendig wie die Kreativität der Werbeabteilung (Print). Onlineshops sind so "exciting" oder langweilig wie die Innovationsfreude und Agilität der Werbeabteilung (Online). Tablet-Anwendungen sind so steril oder im besten Sinne "ansteckend" wie die Experimentierfreude der - ja, wessen eigentlich?
Martin Groß-Albenhausen ist Chefredakteur und Herausgeber des renommierten Branchenmagazins "Der Versandhausberater" und einer der führenden Experten für Versandhandel, Direktmarketing und e-Commerce. Der Versandhausberater informiert seit 1961 Woche für Woche über aktuelle Trends und Entwicklungen im Versandhandel in Deutschland. Mehr Informationen finden Sie hier.