Wohin geht der interaktive Handel, egal ob im Internet, per Katalog, TV, Tablett-PC oder Smartphone? Martin Groß-Albenhausen hat zum Ende seiner Zeit als Chefredakteur beim "Versandhausberater" seine Erfahrungen und Einschätzungen in einem programmatischen Appell an die Branche zusammengefasst.
Lesen Sie, welche Herausforderungen den Handel umtreiben. Auf der "Leaders‘ Lecture" des BVH im Mai 2010 hat der kanadische Blogger Mitch Joel über Hernán Cortéz gesprochen. Der Eroberer des Aztekenreiches hat 1519, nach Gründung der Kolonie Veracruz, die Schiffe versenkt, die eine Rückkehr erlaubt hätten. Falls Sie die Geschichte nicht kennen:
Zuvor hatte sich Cortéz vom Statthalter in Kuba losgesagt. Würde die Mission scheitern, wäre Gefangenschaft, wenn nicht sogar den Tod für ihn und seine Gefolgsleute gewiss. Umkehren war keine Option - der Erfolg „alternativlos“, wie wir heute sagen würden.
Für Mitch Joel steht Cortéz für den Weg, den viele Versender heute einschlagen sollten: Sich lossagen vom sicheren Hafen und aufbrechen, um unkartiertes Land zu erobern. Oder, um in unserem Ambiente (der "Alte Wartesaal" im Kölner Hauptbahnhof, Anmerkung d.R.) zu bleiben: Einen Zug ohne Rückfahrkarte besteigen.
Als ich vor fast 13 Jahren gemeinsam mit meinem Vorgänger, Gerhard Kirchner, ein e-Commerce-Seminar organisierte, war der Versandhandel ein vollständig erschlossenes Terrain. Von RFM zur Quadratzentimeter-Analyse, von etablierten Orderverfahren zu eingespielten Retourensystemen: Die Versandhändler hatten ihr Geschäft perfektioniert. Das war nicht zuletzt Alfred Gerardis Verdienst. Die wichtigste Frage im Seminar war daher, ob man jemals durch Bannerwerbung auf den eigenen Online-Seiten genug Geld verdienen könne, um die Kosten wieder einzuspielen.
13 Jahre später stellen viele Versender die Frage, ob der Katalog noch so viel Umsatz „induziert“, um seine Kosten zu rechtfertigen.
Sie und ich haben in den vergangenen Jahren eine Revolution erlebt, die jedes einzelne Glied der Wertschöpfungskette des Versandhandel umgeschmiedet hat. Wer heute nicht zuerst und vor allem im Internet „Web-Excellence“ beweist, hat keine Zukunft mehr. Und das gilt nicht nur für den Versender, es gilt auch für den Stationären. Es gilt für jeden interaktiven Händler:
Das Internet macht all das nötig, aber auch möglich - zumindest dem, der seine Prozesse auf das Onlinegeschäft ausrichtet. Dass so eine Veränderung das Selbstverständnis eines Versandhändlers erschüttern kann, sehen wir gerade in Augsburg.
Zu Pionieren macht uns diese Veränderung aber noch nicht. Dass neue Ansätze sich derzeit fast nur außerhalb und gerade nicht aus dem Versandhandel heraus entwickeln, sollte uns alle nachdenklich stimmen. Waren wir nicht in der Entwicklung packender Katalog-Formate einmal Weltspitze? Haben wir nicht immer wieder kritisiert, dass Onlineshops genau an dieser Stelle schwächeln?
Social Media. Mobile Commerce. Tablets. - Die Kartierung dieser neuen Landkarten kostet Geld. Von vielen Kollegen höre ich, dass eigentlich keine Zeit, keine Leute und letztlich kein Geld für solche ungewissen Abenteuer da sei.
Hernán Cortéz hat sich persönlich bis über beide Ohren verschuldet, um seine Kolonie zu gründen. Er konnte gar nicht anders als erfolgreich zu sein. Viele von den Unternehmen, die im Jahr 2001 und 2002 die erste Dotcom-Krise überlebt haben, hatten kein Venture Capital im Rücken, sondern Mutters Häuschen beliehen.
Es braucht zwar Kapital, keine Frage. Aber es braucht vor allem den Willen, diese neue, viel komplexere Welt des interaktiven Handels zu erobern. Und noch eins: Hernán Cortéz hat seine Schiffe zwar verbrannt, aber er hat vorher Segel, Anker, Ruder und Kompass an Land schaffen lassen.
Wenn ich in den vergangenen 13 Jahren eines gelernt habe, dann ist es das:
Genau diese Fähigkeiten, diese Navigationsinstrumente, brauchen wir in der Zukunft,
Innovation lebt davon, dass man nicht die Asche bewahrt, sondern die Flamme weiterträgt. Wir betrachten Tradition gerne rückwärts, dabei überliefern wir in diesem Moment, was morgen noch Bestand hat!
Machen wir es wie Cortéz: Bewahren wir nur, was uns nach vorne bringt. - Oder wieder mit dem spiritus loci: Bleiben wir nicht im Alten Wartesaal sitzen, bis der letzte Zug abgefahren ist. Der Interaktive Vertrieb ist die Lokomotive des Handels. Wie zu Alfred Gerardis Zeiten in den 70er Jahren, kommt auch jetzt durch die Technologien neuer Schwung in die Branche.
Martin Groß-Albenhausen ist Geschäftsführer der BVH Service GmbH in Berlin und betreut im Bundesverband des Deutschen Versandhandels (BVH) die Themen e-Commerce, Social Media und Marketing. Zuvor war er 13 Jahre Chefredakteur und Herausgeber des Branchendienstes "Versandhausberater".