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Wie Multichannel Kundenumsatz retten und Profitabilität steigern kann

Sind wir Händler heute eigentlich noch Herren oder Knechte der technischen Prozesse? Die Frage stelle ich mir, wenn ich das Kundenerlebnis im sogenannten „Multichannel“-Handel ansehe. Ich stelle gleich einen Fall aus dem wirklichen Leben vor, an keiner Stelle dazuerfunden.

Daraus sollten Händler lernen.

Eine Kundin erreicht bei einem vertikal organisierten Mode-Anbieter mit Online-Shop und stationären Einheiten (mittleres Preissegment) den sogenannten Platin-Status, der einen regelmäßigen Netto-Umsatz (nach Retouren) von mehr als 1000 Euro p.a. voraussetzt. Die Kundin besitzt auch eine Kundenkarte, die sie regelmäßig einsetzt. Für die bei bestimmten Bestellgrenzen ausgelobten Rabattgutscheine hat sie aktiv die Zusendung eines Online-Codes erbeten.

Eine Kundin, wie wir sie alle gerne haben. Nun aber gibt es Probleme:

  • Der Anbieter verweigert der Kundin seit einem Quartal die Bestellung im Online-Shop, da ihre Retourenquote die im System hinterlegte Maximalgrenze überschritten hat.
  • Die Kundin weicht als absolut Marken-loyale Käuferin notgedrungen und trotz des Aufwandes, mit mehreren Kindern und Mann dafür aus dem Umland in die Stadt fahren zu müssen (nur dort ist ein akzeptabel breites Angebot der Marke verfügbar), auf die stationären Filialen aus.
  • Sie wählt weiterhin bevorzugt die Filialen des vertikalen Anbieters und nicht seine Shop-in-Shops auf Plattformen und bei dritten Händlern, um den Platin-Status nicht zu verlieren.

Der Händler hat also mit seinem System erfolgreich agiert. Die Kundin bleibt der Marke treu und nimmt aufgrund des Loyalty-Programms die zusätzliche Mühe und Kosten auf sich. Es hakt allerdings an Details:

Mit dem Status aus stationären Einkäufen erhält sie die verbundenen Gutscheine, die ihr weiterhin als Online-Codes zugesendet werden. Eine Bestellung aus diesem Guthaben ist aber nicht mehr möglich, da der Händler wegen der systemischen Sperrung der Kundin keine Online-Orders mehr akzeptiert. Eine Einlösung der Online-Codes in den Filialen wiederum scheitert an den Kassensystemen.

Das ist nun freilich ein typisches, schmutziges, aber relativ – RELATIV ! – einfach zu lösendes Problem. Es genügt, nachzujustieren und künftig die Gutscheine stationär einlösbar zu machen oder behelfsweise dort via Terminal in Store-Gutscheine aus dem Karten“guthaben“ zu verwandeln. Dies ist nur eine Frage der Zeit, es gibt hier in den letzten Monaten jede Menge neue Ansätze, bei denen auch innovative Payment-Lösungen integriert werden.

Unser Multichannel-Anbieter hat also klare Vorteile. Nach RFM-Kriterien hätte ein klassischer Versandhändler die Kundin entweder weiter verlustreich (?) bedienen müssen, weil ihre Bestellfrequenz (Frequency = F), das Letztkaufdatum (Recency = R) und auch der Bestellwert bzw. Bon-Höhe (Monetary Value = M) sie im obersten Kundensegment ansiedeln. Oder er hätte eine Kostenbetrachtung angelegt und auf den unrentablen (?) Umsatz verzichtet, indem er die Anzahl der Werbeanstöße reduziert hätte.

Lob des Multichannel: Der zusätzliche Kanal rettet den Kundenumsatz UND erhöht die Profitabilität.

Aber nicht so schnell. Ob die Kundin angesichts der begrenzteren stationären Auswahl und des Anfahrts-Aufwandes ihren Kundenwert und –status erhalten kann, ist noch nicht sicher. Recency und Frequency werden als wesentliche Kriterien geschwächt und so schon rein technisch der Wert gemindert. Die Strategie des Händlers und vermeintliche Chance Multichannel kann so zu einer Falle werden: Der „Customer Lifetime Value“ sinkt. Eine Sortimentsregel lautet, dass selektive Addition sich positiv auf den Kundenwert auswirkt, ein Entzug von Angebot hingegen auch die Ausgaben in den noch zugänglichen Warenbereichen negativ beeinflusst.

Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass die Kundin Mode der Marke teilweise nicht mehr direkt, sondern bei dritten erwirbt. Dieser Margenverlust müsste zusätzlich gegen den Retourenmalus der Kundin aufgerechnet werden.

Eine Betrachtung aus Sicht der Retourengründe zeigt zudem folgende Effekte:

  • Der Händler rät im Onlineshop dazu, wegen der abweichenden Passformen Auswahlbestellungen vorzunehmen.
  • Die Retouren werden wieder in den Versand übernommen. Allerdings hakt es bei der Qualitätssicherung und regelmäßig wird auch Ware mit Gebrauchsspuren verschickt, die wiederum einen Retourengrund ausmachen.
  • Die Marketingsteuerung berücksichtigt nicht, dass regelmäßige pauschale Preis-Aktionen („20 % auf alle XYZ“) mit den gerade im Rücksende-Zeitfenster liegenden Bestellungen zusammentreffen. Dies ist ein Problem speziell bei Kunden mit hoher Kauffrequenz und führt zu höheren Retouren und folgenden Neubestellungen.

Die Kundin handelt also aus ihrer Wahrnehmung korrekt, wenn sie Waren zurückschickt. Sie nimmt sich als loyale, hochwertige Kundin wahr, was ihr aufgrund der Bedingungen des Kartenprogramms auch attestiert wird.

Dem naiven Glauben, 1+1 ergebe im Multichannel 3,5, muss man leider entgegenhalten: 1+1 kann 0,8 ergeben, wenn der zusätzliche Kanal schlecht gemanagt und in einer übergreifenden Betrachtung nicht Kundenwert und Kundenprofitabilität exakt erfasst wird.

Dass Kunden mehrere Kanäle nutzen können, heißt noch lange nicht, dass sie sie auch mit gleicher Intensität nutzen wollen, zumal wenn die Kanäle im Sortiment unterschiedlich agieren müssen. Was wäre, wenn die Kundin im Laden nicht vorhandene Ware dann dort online ordern möchte. Wie wird das Personal erklären, dass dies nicht möglich ist, auch wenn sie dort gerade für mehrere hundert Euro eingekauft hat?

Über den Autor:

Martin Groß-Albenhausen ist Geschäftsführer der BVH Service GmbH in Berlin und betreut im Bundesverband des Deutschen Versandhandels (BVH) die Themen e-Commerce, Social Media und Marketing. Zuvor war er 13 Jahre Chefredakteur und Herausgeber des Branchendienstes “Versandhausberater”.