Waffenforscher wollen Drohnen mit künstlicher Intelligenz ausstatten, die aufgrund von Informationsdaten selbständig entscheiden, ob ein Ziel angegriffen wird. Maschinen könnten besser als Menschen entscheiden, ob ein „Target“ vorliege oder nicht. Deshalb sei es besser, ihnen die Entscheidung zu überlassen.

Ist das auch im e-Commerce die Zukunft?Cum grano salis ist dies die gleiche Einstellung, die im modernen Performance-Marketing den Algorithmen die Entscheidung überlässt, ein Werbemittel online auszuspielen oder nicht, oder im Bidmanagement den Preis „real-time“ zu steigern. Auf welcher Basis? Auf der der Klicks und im Idealfall der Wandlung im Checkout beziehungsweise der Werthaltigkeit oder des zu erwartenden Customer Lifetime Value.

Scorewerte als Entscheidungsgrundlage

Angefangen hat diese Entwicklung schon weit früher: Das moderne Database-Marketing und Data-Mining hat die ehemals wichtigsten Parameter des Direct Marketing, nämlich Recency, Frequency und Monetary Ratio (RFM), durch Scorewerte ersetzt. Ein Kunde, der schwache RFM-Werte ausweist, kann so dennoch mit Print- oder Onlinewerbung ausgestattet werden, sofern andere Kriterien (Alter, Geschlecht, soziodemographische Daten, Aktivitäts-Niveau in Social Media o.ä.) den schwächeren Transaktions-Score ausgleichen.

Einfacher gesagt: Dem System ist es egal, wie das Target einen Scorewert von zum Beispiel 80 Punkten erreicht. Dadurch kann der Kundenstamm in manchen Feldern tiefer ausgeschöpft werden, in anderen Fällen Fehlinvestitionen vermieden werden.

Allerdings hat die Welt des Data-Mining einen problematischen Nebeneffekt: Der Marketer verliert das Ziel aus den Augen. So scheinbar grobschlächtig früher auch die Werbung im Push-Marketing vorgegangen ist, so hart wurde doch um das eigentliche Angebot gerungen. Der Werbegrund war noch fassbar: Ein Kunde mit kurz zurückliegendem Letztkauf wurde anders adressiert als ein Value-Kunde mit hohem kumuliertem Jahresumsatz, der gerade in der „Recency“ oder Kauf-Frequenz abzurutschen drohte. Oder: Eine im Vorfeld definierte Zielgruppe A wurde anders adressiert als eine Zielgruppe B.

Nutzerinteressen in der Werbesteuerung

Das Performance-Marketing bringt eine selten gekannte Effizienz in das (Online-)Marketing. Mit der alten Schule des RFM kann man Performance-Marketing nicht verstehen, geschweige denn steuern. Der langjährige blume200.de-Vorstand Erik Siekmann hat den Paradigmenwechsel auf der bvh 2.012 sehr klar beschrieben:

„Das Nutzerinteresse und nicht die Reichweite oder das Umfeld sind die entscheidenden Kennzahlen für die Werbemittel/-Content-Auslieferung. Das Umfeld ist nicht mit der Zielgruppe gleichzusetzen. Ein Zusammenhang zwischen Reichweite und Umfeld ist nicht mehr zwingend erforderlich. Buchungen unter Berücksichtigung des Umfelds – wenn auch gestützt durch Targeting – garantieren keine exakte Zielgruppenaussteuerung.“

Der Direktmarketer wählt das Werbeumfeld – also zum Beispiel die Zeitschrift, in der er seinen Akquisitions-Katalog beilegt – bewusst aufgrund der Beschaffenheit der Leserschaft. Im Performance-Marketing wird beispielsweise in der Restplatz-Buchung zwar definiert, in welchen Umfeldern man nicht erscheinen möchte. Im übrigen aber ist es Sache der Algorithmen, wie oft und welchem Leser bei welchem Publisher wann eine Display-Anzeige ausgespielt wird.

Das ist ein Quantensprung gegenüber dem Direktmarketing, denn diese kalkulierte Blindheit gegenüber dem Umfeld erlaubt erst, so günstig erfolgreich zu werben. Freilich um den Preis der nicht mehr auf das Umfeld ausgerichteten – und damit unpersönlicheren Werbung.

Angebot und Werbeumfeld bleiben wichtig

Die neue Disziplin gaukelt deshalb auch Wissen vor, das in Wirklichkeit verloren geht. Denn die Algorithmen berechnen nur, dass die Wahrscheinlichkeit eines Klicks bei einem bestimmten Werbemittel, Umfeld und Nutzer hoch ist – ohne Anschauung des Angebots an sich. Die Angebote für so disparate Zielgruppen werden dabei – wie von Erik Siekmann beschrieben – notwendigerweise pauschaler. Das ist zunächst kein Manko, verlagert aber lediglich die Bildung von Zielgruppen und die Schärfung des Angebots nach hinten.

Retargeting macht dieses Defizit im sogenannten Frequency-Capping deutlich. Dem Nutzer, der sein Interesse ohne Kaufabschluss signalisiert hat, wird das Produkt wieder und wieder gezeigt, zuweilen mit einem Rabatt garniert. So lange, bis es lästig zu werden droht und daher die Ausspielung der Werbung eingestellt wird – um den Kunden nicht zu verärgern.

Warum der Nutzer vom Angebot nicht überzeugt war, spielt dabei keine Rolle. Der US-Direktmarketer Denny Hatch hat dies gerade am Beispiel von Zappos und Zalando erläutert. Den Algorithmen war nicht aufgefallen, dass Hatch eine spezielle Größe benötigte, die selten auf Lager ist. Stattdessen wurden lediglich Marken oder Modelle wieder und wieder in Displays abgebildet. Das ist kein Angebot – das ist eine nette Liste und damit um Meilen hinter den Standards, die das klassische Direktmarketing im vergangenen Jahrhundert aufgebaut hat.

Die Grenzen der Algorithmen

Mich begeistert Performance Marketing, und mich begeistert Customer Journey-Analyse. Auch im klassischen Direktmarketing gilt die eine Regel: Es geht darum, „was“ funktioniert, nicht „warum“ es funktioniert. Der Direktmarketer verlässt sich auf Tests, die in harten Zahlen zeigen, welcher Wurm dem Fisch schmeckt – warum es dieser und nicht der andere Wurm war, ist zunächst erst Mal unerheblich.

Auch für einen Interaktiven Händler, der auf Hundeartikel spezialisiert ist, macht Re-Targeting Sinn – weil er ja nur denjenigen adressiert, der schon einmal bei ihm im Shop gewesen ist und sich für ein bestimmtes Produkt interessiert hat. Entscheidend ist für ihn deshalb, dass das Publisher-Netzwerk genügend attraktive Seiten hat, auf denen der „Interessent ohne Kauf“ und das Angebot des Händlers einander wieder begegnen können.

Um wirklich erfolgreich mit den einmal gewonnen Kunden weiterzuarbeiten, muss der Händler dann aber am Inhalt der Werbung, am Angebot arbeiten. Und hier helfen ihm Algorithmen allein nicht mehr weiter. Angebote zu machen, das ist Kernkompetenz des Händler. Angebot und Zielgruppe müssen miteinander verklammert werden, nicht Produkt und Cookie. Eine Zielgruppe wiederum muss beschreibbar sein – ein Score-Wert liefert diese Beschreibung nicht.

Die Konzentration auf Produkte statt Angeboten liegt im Kern des Performance-Marketings und führt dazu, dass (mit Alexander Grafs Worten) „E-Commerce doof ist“. Ob Targeting, Retargeting, Behavioural Targeting oder Predictive Behavioural Targeting: Sie alle führen zu keiner Verbesserung der Haltbarkeit und des Customer Lifetime Value, wenn nicht das nachfolgende Angebot einzigartig und unmittelbar zwingend ist.

Über den Autor:

Martin Groß-Albenhausen ist Geschäftsführer der BVH Service GmbH in Berlin und betreut im Bundesverband des Deutschen Versandhandels (bvh) die Themen e-Marketing und Social Media. Zudem ist er Autor im bvh Blog How2Trade Zuvor war er 13 Jahre Chefredakteur und Herausgeber des Branchendienstes “Versandhausberater”.

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